CO2-Mindestpreise, Grenzausgleich und Differenzverträge statt Ausnahmen (Industriepolitik 5.0)
Damit es sich lohnt, in Klimaschutz zu investieren, soll die Erzeugung von Klimagasen teurer werden. Das ist der Gedanke hinter dem Europäischen Zertifikate-Handel für Treibhausgasemissionen. Allerdings gibt es gerade für die Industrie, die am meisten Energie benötigt und Emissionen verursacht, viele Ausnahmen. Etwa die Befreiung von der EEG-Umlage oder die Zuweisung kostenloser Zertifikate im europäischen Emissionshandel.
Grund ist die Sorge, dass Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, bei zu hohen Kosten für CO2-Emissionen ins Ausland auswandern könnten (Carbon Leakage).
Damit Unternehmen in treibhausgasneutrale Produktionsverfahren investieren, brauchen sie finanzielle Anreize, gleichzeitig muss die Wirtschaft vor dem Carbon Leakage geschützt werden. Das ist umso wichtiger, als das in den kommenden Jahren in den betroffenen Branchen massive Reinvestitionen anstehen.
Sofern ich am 26.9.2021 in den Bundestag gewählt werde, werde ich Gesetzesinitiativen einbringen oder unterstützen, durch die
- der Europäischen Emissionshandels (EU-ETS) an die in der EU beschlossenen höheren Klimaziele für 2030 angepasst wird
- Unternehmen Planungssicherheit bekommen durch Mindestpreise auf Treibhausgase (> 50 € pro Tonne CO2e)
- das Carbon Leakage nicht mehr mit Ausnahmen für die Energieintensive Industrie verhindert wird, sondern durch einen Grenzausgleich zum Beispiel in Form einer Konsumabgabe. Dadurch müssen Verursacher und Verbraucher auch dann für die CO2-Emissionen zahlen, wenn Produkte importiert werden. So fällt der Wettbewerbsvorteil durch ausländische Produktionsstätten weg.
- staatliche Investitionszuschüsse ermöglicht werden, mit denen Unternehmen heute in CO2-sparende Technologien investieren können und die sie zurückzahlen, wenn die Preise für CO2-steigen – und sich die Investitionen bezahlt machen. Differenzverträgen (CCfD))
Hintergrund: Beschreibung der Vorschläge im Detail
In Europa wird die Menge der Emissionen, die in der treibhausgasintensiven Grundstoffindustrie ausgestoßen werden dürfen, durch das „Emissions Trading System“ (ETS) gesteuert und begrenzt. Die Verschärfung der europäischen Klimaziele auf eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 55% oder 60% bis 2030 wird einhergehen mit einer stärkeren jährlichen Reduktion der Obergrenze (Cap) für Emissionen im EU-ETS. Um zu verhindern, dass Unternehmen ihre Produktion in Länder mit geringeren Emissionspreisen verschieben (Carbon Leakage), muss es im internationalen Handel einen Ausgleich für die Emissionskosten geben (Grenzausgleich). Die Forderung nach Industriestrompreisen von unter 4 Cent/kWh führt nicht zu verursachergerechten Produktpreisen.
Industrieanlagen, welche Teil des europäischen Emissionshandels (EU-ETS) sind und einem erheblichen Abwanderungsrisiko ausgesetzt sind, erhalten bis heute kostenlose Verschmutzungsrechte (Zertifikate). Bei den effizientesten aber gleichzeitig treibhausgasintensivsten Produktionsanlagen decken sie die gesamten Emissionen ab. Zwischen 2013 bis 2020 wurden so 43% aller Verschmutzungsrechte (EU-ETS-Zertifikate) kostenfrei ausgegeben. Fluggesellschaften erhielten in diesem Zeitraum nahezu alle Verschmutzungsrechte umsonst. Der Sonderbericht des EU-Rechnungshof stellte 2020 fest, dass die kostenfreie Vergabe von Verschmutzungsrechten zu wenig gezielt erfolgte. Darüberhinaus sind mehr Verschmutzungsrechte als notwendig zugeteilt oder verkauft worden. Infolge dessen und verstärkt durch die Wirtschaftskrisen 2009 und 2020/2021 und des damit verbundenen Produktions- und Emissionsrückgangs haben viele der unter den EU-ETS fallenden Industrieanlagen einen erheblichen Überschuss an kostenlosen Zertifikaten angesammelt oder verkauft. Der CO2-Preis blieb dadurch aufgrund der niedrigeren Nachfrage nach Zertifikaten über viele Jahre niedrig. Damit wird von Expert*innen das Carbon-Leakage-Risiko für viele Industrieanlagen als erheblich geringer eingeschätzt als zum Zeitpunkt der Annahme des Klima- und Energiepakets 2020 im Jahr 2009.
(1) Grenzausgleich als Endprodukt (Konsum-)abgabe
Durch MP 3 (Lieferkettengesetz 2.0) werden Unternehmen zunehmend verpflichtet, die Treibhausgasemissionen durch die Lieferkette zu bilanzieren und beim Endprodukt zu kennzeichnen, und durch MP 4 (Kreislaufwirtschaftsgesetz 2.0), ihre Produkte so zu konzipieren, dass sie länger genutzt werden können, nach ihrer ersten Nutzungszeit leicht zerlegbar sind und Ressourcen im Kreislauf wiederverwendet werden können.
Die Bilanzierung der Treibhausgasemissionen durch die gesamte Liefer- und Wertschöpfungskette stellt durch die Sichtbarkeit der Treibhausgasemissionen im Endprodukt für den Klimaschutz einen Mehrwert dar und ihr Aufwand ist daher gerechtfertigt. Im Gegensatz zur bisherigen Bürokratie der Ausnahmen- und Rückerstattungsregelungen fällt der Erfüllungsaufwand durch die fortschreitenden und sicheren Optionen der Digitalisierung geringer aus.
Auf dieser Grundlage können alle Unternehmen, die nicht im internationalen Wettbewerb stehen und steigende CO2-Preise auf Produkte umlegen können, im Rahmen der Investitionszyklen in eine treibhausgasarme oder freie Produktion investieren und auch in der Vorkette aktiv treibhausgasärmere Vorprodukte einsetzen.
Für Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen und hohe Handels- und Emissionsintensitäten aufweisen, können ein Grenzausgleich und Differenzverträge helfen, frühzeitig in treibhausgasarme oder freie Produktion zu investieren (vgl. co2abgabe 2020).
Die bisherigen Maßnahmen zum Schutz vor Carbon Leakage im EU-ETS (kostenfreie Zuteilung und Strompreiskompensation sowie verringerte Energiesteuer- und Umlagensätze für viele Unternehmen) sind nicht geeignet, eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um 55 oder 60 % bis 2030 in Europa zu erreichen (vgl. Bericht EU Umweltausschuss 15.2.2021). Ausnahmen von staatlich veranlassten Preisbestandteilen oder eine Deckelung der Industriestrompreise lasten zudem die Kosten der Transformation hin zu treibhausgasneutralen Produktionsverfahren nicht den eigentlichen Verursachern, wie z. B. dem Käufer eines Autos, das Aluminium oder Stahl enthält, an, sondern der Allgemeinheit. Der effektivste Weg, um sicherzustellen, dass die Preissignale sowohl den Produzenten als auch den Abnehmer eines Produktes erreichen, führt über eine Endproduktabgabe (Konsum- oder Klimaabgabe), ähnlich der Mehrwertsteuer, die bis zum Letztverbraucher weitergegeben wird. Anders als bei der Mehrwertsteuer kann hier jedoch auch der Produzent bereits Emissionen und Konsumabgabe einsparen und damit sein Produkt auch günstiger als treibhausgasintensivere Produkte anbieten.
(1) Carbon Contracts for Difference führen zu vorgezogenen Investitionen in eine treibhausgasarme oder -freie Produktion
In der Regel sind Umstellungen von Produktionsprozessen in der Industrie mit erheblichen Sprunginvestitionen verbunden (z.B. Ersatz von Erdgas als Energieträger durch Grünen Wasserstoff). Sprunginvestitionen zeichnen sich bei kompletten Verfahrensumstellungen oft durch überdurchschnittlich hohe Finanzierungsvolumina mit entsprechend hohen Risiken und Fremdfinanzierungsbedarf aus (Energiewendekomission 2021, S. 29 ff.). Die zugrundliegenden CO2-Vermeidungskosten der Umstellung sind deutlich höher, als die auch bei gestiegenem Minderungspfad steigenden CO2-Preise im EU-ETS erwarten lassen. Damit bleibt eine Finanzierungslücke bei treibhausgasintensiven Unternehmen bestehen, die z.B. durch Verträge zwischen dem Staat und dem investierenden Unternehmen geschlossen werden kann (Differenzverträge oder Carbon Contracts for Difference, CCfD). Hierzu schließt der Staat mit einem Industrieunternehmen einen Vertrag, in dem er Zuschüsse zahlt, solange der Preis für Treibhausgase zu niedrig ist, um in treibhausgasneutrale Produktionsanlagen investieren oder die Betriebskosten wie z. B. den Einkauf von Grünem Wasserstoff decken zu können. Wenn der CO2-Preis schließlich ansteigt, zahlt das Unternehmen an den Staat zurück. Beispiel: Angenommen, die Vermeidungskosten (abzgl. eingesparte Betriebskosten) eines neuen treibhausgasneutralen Produktionsverfahrens in der Chemie über Grünen Wasserstoff liegen bei 170 € pro Tonne CO2e, der Preis des EU-ETS aber nur bei 50 € pro Tonne. Dann fehlen dem Unternehmen 120 € pro Tonne, die es nicht z. B. über den Verkauf von entsprechend nicht benötigten EU-ETS Zertifikaten einnehmen kann. Diese Differenz stellt der Staat so lange zur Verfügung, bis die EU-ETS-Preise die Höhe von 170 € pro Tonne CO2e erreicht haben. Auf diese Weise kann das Unternehmen sofort mit der treibhausgasneutralen Produktion seines Grundstoffes beginnen und muss nicht erst warten, bis die CO2-Preise das entsprechende Niveau erreicht haben. (vgl. auch Richstein et al. 2021, Gerres et al. 2020, DIW 2019).
Erwartete Wirkungen auf Emissionen, Arbeitsmarkt und Finanzen
Die Treibhausgasemissionen der deutschen Industrie betrugen 2018/2019 etwa 195 Millionen Tonnen CO2e. Innerhalb der Industrie weisen die Branchen Stahl (ca. 57 Millionen Tonnen CO2e), die Grundstoffchemie (37 Millionen Tonnen CO2e) und Zement (20,5 Millionen Tonnen CO2e) knapp 60% der territorialen CO2eEmissionen auf. Etwa 50 Mio. CO2eEmissionen sind prozessbedingte Emissionen, die nur bedingt über den Einsatz Erneuerbarer Energien ersetzt werden können (Irees 2020).
Ein Schwerpunkt der Defossilisierung der Industrie wird bis 2030 in der Elektrifizierung der Prozesswärme und einer strombasierten Dampfproduktion liegen, sofern der Ausbau der Erneuerbaren Stromerzeugung dies bis dahin erlaubt. Ab 2030 wird vor allem die grüne Wasserstoffwirtschaft zu weiteren Einsparungen führen (Agora 2020, ISE 2020).
Weitere Schwerpunkte werden aber auch in der Suffizienz und der Substitution fossiler Rohstoffe liegen müssen (vgl. MP 17). Ohne weitreichende Suffizienzgewinne werden jährlich ein durchschnittlicher Zubau der Photovoltaik von 10,5–14,8 GWel, der Windenergie onshore von 7,4–8,4 GWel und offshore von 1,4–1,7 GWel notwendig, um das verschärfte Zwischenziel zur Reduktion der Emissionen im Jahr 2030 erreichen zu können (ISE 2020). Technisch und ökonomisch lässt sich das darstellen. Ob sich allerdings auch der Ausbau insbesondere der Windenergie an Land politisch durchsetzen lässt, scheint bei einer bisher maximalen Zubauleistung von rund als 5,3 GW im Jahr 2017 nicht sicher.
62 % der Stahlverwendung liegen im Baubereich (36%) und bei der KFZ-Produktion (26%). Bereits bei einer Halbierung der KFZ-Produktion und halb so viel Stahl im Baubereich würden allein durch Suffizienz bis zu 30% der Emissionen beim Stahl (13-14 Mio. Tonnen Emissionen) eingespart werden können. Vergleichbares gilt für die Chemieindustrie. Die chemische Industrie in Deutschland nutzte im Jahr 2018 zu knapp 87% fossile Rohstoffe (18,1 Millionen Tonnen, davon das Erdölprodukt Naphtha mit 14 Mio. Tonnen) und mit etwa 2,6 Millionen Tonnen 13% nachwachsende Rohstoffe (VCI 2020). Der Kunststoffverbrauch in Deutschland lag 2019 bei mehr als 12 Mio. Tonnen (Conversio 2020). Rund 25% sind Verpackungen, rund 25% werden im Baubereich und 10% für Fahrzeuge benötigt. An Kunststoffabfällen fallen in Deutschland jährlich rund 5 Mio. Tonnen an. Davon exportierte Deutschland 2018 mehr als 1 Mio. Tonnen. Die größten Mengen gehen derzeit nach Malaysia und in die Türkei – zu großen Anteilen ohne jede Nachweispflicht. Wie und ob dort überhaupt die Kunststoffabfälle verwertet werden, ist deutschen Behörden nicht bekannt (wwf 2020, btd1923513). Die Roadmap Chemie 2050 zeigt auf, von welchen Rohstoffen und Emissionen die Chemieindustrie im Jahr 2020 ausgeht und dass sie ohne Suffizienz mit einem erneuerbaren Strombedarf von über 600 TWh bis zu einer „Klimaneutralität“ in 2050 rechnet. Dabei geht sie von einem Industriestrompreis von 4-5 Cent/kWh aus. Für durchschnittlich 4-5 Cent pro kwh sind jedoch in Deutschland Strom aus Sonne und Wind inkl. Transportkosten verursachergerecht bis zum Ort des Verbrauchs in absehbarer Zeit nicht lieferbar.
Damit sollte klar sein, dass eine Umwelt- und Klimaverträglichkeit der Industrie ohne Anreize zur Suffizienz, also Reduktion des Konsums auf „wirklich benötigten“ Produkten, und damit verbundenen Einsparungen nicht darstellbar sind.
Dafür gibt es im Bereich des Vermeidens und des Ersatzes von Produkten aus fossilen Rohstoffen und beim Recycling von Abfällen ein riesiges Potenzial. Bereits seit dem 19. Jahrhundert sind kompostierbare Folienverpackung („Kunststoff Zelluloid“) aus dem pflanzlichen Stoff Zellulose hergestellt verfügbar. Allerdings zum etwa dreifachen Preis gegenüber fossilen Kunststofffolien (z.B. repaq). Auch hier ist die Internalisierung der externen Schäden durch entsprechende Abgaben, Export- und Recyclingquoten und Herkunfts- und Verwendungsnachweise im Kreislaufwirtschaftsgesetz dringend geboten. Durch höhere Kosten der fossilen Grundstoffe werden sich zahlreiche Geschäftsmodelle für Produktion und Verarbeitung von Grundstoffen aus nachwachsenden Rohstoffen (wie Cellulose, Lignin, Lipiden und Proteinen) entwickeln. Voraussetzung dafür ist jedoch das Freiwerden von entsprechenden Flächen durch eine veränderte Landnutzung (vgl. MP 16, MP 17).
Vorschläge für die rechtliche Umsetzung
(1) Grundlegende Reform des europäischen Emissionshandels im Rahmen des EU-Green Deal mit Einführung eines CO2-Mindestpreises (Planbarkeit), Grenzausgleich als Konsumabgabe und Einführung eines internationalen Klimafonds zur Finanzierung von Differenzverträgen. Emissionshandel: kostenlos zugeteilte Zertifikate sowie die Strompreiskompensation gemäß der Richtlinie des BMWi für Beihilfen für indirekte CO2-Kosten durch Grenzausgleich in Form einer Endproduktabgabe und CfDs ersetzen (vgl. MP 19).